„Ich weiß, dass ich es wusste – aber es ist weg.“
Menschen, die an einer Amnesie leiden, beschreiben ihr Erleben oft mit diesen Worten. Erinnerungen, die eben noch präsent waren, scheinen sich aufzulösen. Manchmal betrifft es nur einen kurzen Zeitraum, manchmal ganze Lebensabschnitte. Für Betroffene und Angehörige ist das oft beunruhigend, denn das Gedächtnis ist ein zentraler Teil unserer Identität.
Neuropsychologisch betrachtet ist Amnesie jedoch kein völliges „Verlöschen“ von Erinnerungen, sondern Ausdruck einer gestörten Verarbeitung oder Speicherung im Gehirn.
Was bedeutet Amnesie überhaupt?
Unter Amnesie versteht man den (teilweisen oder vollständigen) Verlust von Gedächtnisinhalten. Sie kann plötzlich auftreten – etwa nach einem Unfall oder einer Operation – oder schleichend, zum Beispiel im Rahmen einer Demenz.
Man unterscheidet verschiedene Formen:
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Anterograde Amnesie: Neue Informationen können nach einem bestimmten Ereignis nicht mehr dauerhaft gespeichert werden. Betroffene erinnern sich an Vergangenes, vergessen aber, was sie gestern oder vor einer Stunde erlebt haben.
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Retrograde Amnesie: Erinnerungen vor einem bestimmten Ereignis (z. B. Unfall, Operation, Trauma) sind verloren.
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Transiente globale Amnesie (TGA): Eine vorübergehende, meist harmlose Episode plötzlicher Gedächtnisstörung, die Stunden andauern kann. Betroffene sind verwirrt, wiederholen Fragen und wissen später meist nichts mehr davon.
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Psychogene (dissoziative) Amnesie: Hier steht nicht eine körperliche Ursache im Vordergrund, sondern psychischer Stress oder Trauma – das Gehirn „blendet“ bestimmte Erinnerungen aus, um sich zu schützen.
Wie entsteht eine Amnesie?
Unser Gedächtnis ist kein einzelner Speicher, sondern ein Netzwerk. Es umfasst:
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den Hippocampus, der neue Informationen verarbeitet und ins Langzeitgedächtnis überführt,
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den präfrontalen Cortex, der Gedächtnisinhalte ordnet und abruft,
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emotionale Zentren wie die Amygdala, die Erlebnisse mit Bedeutung verknüpfen.
Kommt es in diesem Netzwerk zu einer Schädigung – etwa durch Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, Sauerstoffmangel, Epilepsie, Infektion oder Entzündung – kann das Speichern oder Abrufen von Erinnerungen gestört sein.
Auch psychische Überforderung, Schlafmangel oder schwere Belastungen können die Gedächtnisleistung vorübergehend blockieren.
Neuropsychologisch gesehen ist Amnesie also kein „Abschalten“ des Gedächtnisses, sondern eine Störung der neuronalen Kommunikation.
Wie sich Amnesie im Alltag zeigt
Amnesie ist mehr als das berühmte „Ich kann mich nicht erinnern“.
Betroffene beschreiben:
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Schwierigkeiten, sich an Gespräche oder Termine zu erinnern,
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Unsicherheit im Alltag (z. B. beim Einkaufen oder Autofahren),
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Verwirrung über Zeit und Ort,
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das Gefühl, sich selbst „fremd“ zu sein.
Oft kommt hinzu: Scham und Angst. Viele Betroffene ziehen sich zurück, weil sie befürchten, Fehler zu machen oder nicht ernst genommen zu werden. Dabei sind diese Symptome in den meisten Fällen keine Frage der Persönlichkeit, sondern Folge einer klar messbaren neurokognitiven Beeinträchtigung.
Wie die neuropsychologische Diagnostik helfen kann
In unserer Praxis führen wir neuropsychologische Gedächtnistestungen durch, um genau herauszufinden,
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welche Gedächtnisformen betroffen sind (Kurzzeit-, Arbeits- oder Langzeitgedächtnis),
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ob die Speicherung oder der Abruf gestört ist,
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und wie andere kognitive Bereiche – wie Aufmerksamkeit, Sprache oder exekutive Funktionen – beteiligt sind.
So lässt sich unterscheiden, ob es sich um eine neurologisch bedingte Amnesie handelt (z. B. nach Kopfverletzung oder Schlaganfall) oder um eine funktionelle bzw. psychogene Form.
Diese Diagnostik ist die Grundlage für gezielte Interventionen:
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Kognitives Training zur Gedächtnisstützung und Reorganisation,
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Strategietraining (z. B. Gedächtnishilfen, Visualisierungstechniken),
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Alltagstraining mit Kompensationsmethoden,
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und, falls nötig, psychologische Begleitung, wenn die Amnesie im Zusammenhang mit Stress oder Trauma steht.
Warum frühe Abklärung so wichtig ist
Viele Formen der Amnesie können sich bessern oder zurückbilden, wenn sie früh erkannt und behandelt werden.
Das Gehirn besitzt eine hohe Plastizität – neue Verbindungen können geschwächte Netzwerke teilweise kompensieren.
Deshalb ist es entscheidend, frühzeitig abzuklären, ob eine Amnesie Folge einer organischen Schädigung, einer Überlastung oder psychischen Belastung ist.
Je genauer die Ursache verstanden wird, desto gezielter kann das Gehirn unterstützt werden – ob durch Training, Lebensstil, Struktur oder Entlastung.
Amnesie ist kein „Loch im Kopf“, sondern ein Ausdruck dafür, dass das Gehirn mit außergewöhnlicher Belastung oder Schädigung umgeht.
Vergessen ist Teil unseres Schutzmechanismus – aber wenn das Erinnern nicht zurückkehrt, braucht das Gehirn Unterstützung.
Neuropsychologische Diagnostik hilft, Licht ins Dunkel zu bringen:
Sie macht sichtbar, was noch funktioniert, wo es hakt und was gestärkt werden kann.
Denn auch nach Gedächtnisverlust gilt: Das Gehirn kann lernen, wieder zu erinnern – auf seine eigene Weise.



